Hanno Wulf
Es basiert auf Ausgewogenheit der Gefühle
Ich will es nennen. Es ist Liebe. Es basiert auf
Ausgewogenheit der Gefühle. Es ist gut, daß
es schon so lange zwischen uns ist. Ich will es
nicht leidenschaftlich beschreiben, denn das hieße,
der Liebe Gewalt anzutun. Ich werde einige Szenen
aus unserem Ehealltag beschreiben, in denen von
leidenschaftlicher Liebe nicht die Rede ist.
Sollte dabei der Eindruck fortgesetzter Lieblosigkeit
entstehen, so vergessen Sie ihn bitte am Ende. Er
täuscht.
1. Gehaltserhöhung
Am Abend modelliere ich meine Bescheidenheit im
Keller. Ich modelliere sie aus Ton. Es ist die Skulptur
eines kleinen Mannes mit schütterem Haupthaar
(aus grauer Wolle), der übermäßig
lange, dicke Arme zum Himmel hochreißt und
triumphierend den großen Mund zu einem Siegeslachen
geöffnet hat. In seinen Augen stehen Tränen
(aus blauem Glas). Der Ausdruck des Mannes ist der
Ausdruck totalen Stolzes. Ich habe mich trotzdem
entschlossen, die Skulptur Bescheidenheit
zu nennen, weil ich sie gleich im Garten verstecken
werde.
Ich habe heute eine Gehaltserhöhung bekommen.
Sie weiß es noch nicht. Die Kinder verstehen
es noch nicht. Ich gehe in den Garten und verstecke
meine Bescheidenheit. Ruhig trete ich danach in
die Küche, decke den Tisch und warte, bis sich
unsere Blicke treffen. Ich habe heute eine
Gehaltserhöhung bekommen. Wir lächeln
uns an. Ich sehe, wie sie sich freut, doch ich denke
nur daran, was ich ihr schenken kann.
2. Sie ist zur Kur gefahren
Sie ist weggefahren. Sie ruft an, und ihre Stimme
klingt ganz fern. Sie fragt nach den Kindern. Die
Kinder? stutze ich. Oh, mein Gott, die
Kinder!!!
Aber es ist nur ein Scherz zwischen uns. Er ist
nicht zum La-chen da. Ich vermisse dich,
sage ich, weil ich es so empfinde. Dann lege ich
auf. Ich empfinde nicht mehr, daß ich sie
vermisse. Ich nehme den Hörer ab, und da ist
wieder das Gefühl, daß ich sie vermisse.
Ich lege auf. Ich vermisse sie nicht mehr.
Stirnrunzelnd schlendere ich zum Fenster und lege
die Hand auf den Fenstergriff. Ich vermisse sie.
Ich nehme die Hand weg. Nichts mehr.
Es ist Slapstick, es macht mich ganz verrückt.
Ich greife nach einer Zigarette, um mich zu beruhigen,
da vergehe ich plötzlich vor Sehnsucht. Ich
drücke sie aus und erkalte.
Schließlich steige ich in den Keller hinunter,
um Sehnsucht und die Abwesenheit von Sehnsucht aus
Ton zu modellieren. Es entstehen zwei kleine Männer
mit grauem, schütterem Haar und zwei große
Telephone.
Ich weiß, daß ich das Gefühl nicht
gut getroffen habe, aber mir ist inzwischen nicht
mehr klar, worin der Unterschied zwischen Sehnsucht
und ihrer Abwesenheit besteht.
3. Sie kommt wieder
Sie kommt zurück. Seit Stunden warte ich auf
dem Flughafen und freue mich darauf, sie wiederzusehen.
Die Kinder sind in der Schule, ich habe mir freigenommen.
Sie kommt durch den Zoll, und mir ist plötzlich,
als hätte ich heute keine Zeit für sie.
Aus-gerechnet heute.
Sie hat mich schon gesehen, kommt auf mich zu. Ich
drücke ihr vorsichtig die Hand, sage: Hallo.
Willkommen. Und, ehe sich unsere Blicke begegnen
können: Augenblick, bitte.
Ich haste über den glattpolierten Boden auf
die Flughafentoi-lette zu, stürze durch die
Tür und drücke mich an die nächstbeste
Wand. Die Flughafentoilette ist groß und glänzt.
Ich drücke die Stirn an dunkelgrüne Kacheln.
Alles in Ordnung, flüstere ich.
Warum glaube ich, daß ich heute keine
Zeit für sie habe?
Wie kann ich das nur glauben? Wie kann ich das nur
fühlen? Ich versuche, mich zu fassen, und schlendere
bewußt langsam zu ihr zurück. Lieblosigkeit.
Ich fühle mich so schuldig.
Zuhause angekommen, stelle ich die Koffer in den
Flur, und dann kann ich nicht mehr anders, als in
den Keller zu flüchten, um Lieblosigkeit aus
Ton zu modellieren. Ich erschaffe in wenigen Stunden
ein Panorama der Gewalt mit kleinen grauhaarigen
Männern als Relief.
Da ich vorhabe, es im Garten zu verstecken, muß
ich es, meinem System folgend, Liebe
nennen. Aber das widerstrebt mir, und ich trage
es als Namenloses in den Garten.
Sie sitzt im Wohnzimmer. Ich lasse mich in einen
Sessel sinken und versuche, nur an sie zu denken.
Ich wollte für dich kochen, sage
ich. Es tut mir leid.
Ich bin nicht hungrig, sagt sie. Dann
kommt sie zu mir und legt einen Arm um mich. Und
ich weiß, daß ich ihr vertrauen kann.
4. Weihnachten
Es ist so schwer, das Richtige zu schenken. Die
Kinder, Markus und Mathias, bekommen die Ballettschuhe,
die sie sich ge-wünscht haben.
Sie haben herausgefunden, daß Jean-Claude
van Damme frü-her Ballett getanzt hat.
Sie bekommt einen Ring mit einem prächtigen
blauen Stein. Ob es das Richtige ist? In der Nacht
vor Heiligabend schläft sie unruhig, sie keucht
und schnarcht, bekommt keine Luft. Ich träume,
wie ich ihr bei der Bescherung feierlich ein Atemgerät
überreiche.
Ich wache auf und versuche, den abwegigen Gedanken
loszuwerden, daß ich tatsächlich ein
Atemgerät gekauft und in Ge-schenkpapier eingewickelt
habe. Der Gedanke ist so wirklich, so überzeugend,
so peinlich, es ist, als hätte ich ihr das
Atemgerät (eine Art Gasmaske mit einem dicken
Schlauch, der zu einer Sauerstoffflasche führt)
bereits geschenkt. Ich stehe auf und laufe leise
durch das Haus, bis ich ruhiger werde.
Am Abend spiele ich den Weihnachtsmann. Mit einem
Korb voller Geschenke komme ich vom Dachboden und
beginne auf der Treppe zum Untergeschoß laut
zu läuten. Mir ist heiß in meinem Kostüm,
und die Hitze erinnert mich daran, daß mir
in der Nacht irgend etwas sehr unangenehm war.
Ich läute und läute. Mir wird ganz seltsam,
so, als ob ich mich langsam auflöse. Als ich
die Tür zum Bescherungszimmer aufreiße,
bin ich in einer schweren Trance. Ich kann nicht
mehr aufhören zu bimmeln. Die Luft um mich
herum wird zu einer flüssigen Masse aus goldenem
Schall, der sich in konzentrischen Kreisen von mir
fortbewegt.
Ich kann nicht aufhören zu bimmeln.
In einer letzten Willensaufwallung werfe ich die
Glocke schließlich weg, einfach fort, irgendwohin.
Ich reiße mir den Bart ab und renne in den
Keller. Ich modelliere einen kleinen, grauen Mann
im Weihnachtsmannkostüm. Er hat eine riesige
Glocke und beugt sich drohend über eine Frau
mit Gasmaske, die auf dem Boden liegt. Ich trage
es in den Garten, dann gehe ich tief ausatmend ins
Bescherungszimmer.
Es ist sehr still. Ich hole die Geschenke aus dem
Korb und überreiche sie schweigend. Ich spüre,
daß sie sich freuen, aber es bleibt so still.
5. Ostern
Bitte respektiere, daß ich es nicht möchte.
Wir haben Ostern immer drinnen gefeiert, und es
bleibt dabei. Nicht im Garten. Bitte respektiere
es.
Sie respektiert es. Die Kinder sind enttäuscht.
Abends stehe ich auf der Terrasse und horche in
mich hinein. Ich fühle mich so schuldig. Aber
wir haben Ostern immer drinnen gefeiert. Das Haus
ist doch groß genug. Der Garten gehört
mir, es ist mein Garten, ich brauche ihn. Ich bin
derjenige, der in ihm arbeitet.
Die Luft ist sehr mild für diese Jahreszeit.
Der Garten ist nicht das richtige Objekt für
einen Streit. Ein Streit darum gehört sich
nicht für Eheleute.
Ich enge sie niemals ein, sie darf sich nicht beklagen.
Ich weiß, sie wird es respektieren.
Ich gehe in den Keller.
Hanno Wulf
Geboren 1969 in Freudenstadt. Abitur 1989 in Hamburg-Volksdorf.
Zivildienst bis 1991. Studium Slavistik ab 1993.
Bibliographie: Kleinere Veröffentlichungen
in der Edition 406 und im Hamburger Ziegel. |