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Hartmut Pospiech
Jägerchor


Während ich noch meine Beine in die Unterhose nestelte, war Lena schon auf dem Flur und riß ihre Jacke von der Garderobe. Unglaublich, wie schnell eine Frau die Wohnung verlassen kann, wenn du dich mit ihr streitest, aber wenn du unbedingt in zehn Minuten mit ihr im Kino sein willst, braucht sie mindestens zwölf Minuten im Bad.
Als ich im Flur stand, riß Lena die Tür auf.
„Lena“, keuchte ich, „das war doch nicht so gemeint.“ Lena erstarrte, drehte sich zu mir um. „Um so schlimmer. Du Arsch.“ Sie knallte mir die Tür vor der Nase zu. Ich versuchte ihr ins Treppenhaus zu folgen, aber gerade kam das türkische Ehepaar von oben die Treppe herunter, das mich ohnehin schon für einen Perversen hielt. Resigniert ließ ich die Wohnungstür zufallen. Mein Blick fiel auf Olli, der in der Küche saß und Milch auf die Cornflakes kippte. Aus seinem Zimmer dröhnte Hiphop.
„Kannst du mir ’n Zwannie leihen? Bin gerade klamm“, sagte Olli.
„Besorg dir ’nen Job“, sagte ich und trottete zurück ins Bett, das wenigstens noch nach Lena roch. Und dort blieb ich für die nächsten drei Tage. Denn Lena kam nicht zurück, rief nicht an, schickte keine Karte und nahm das Telefon nicht ab, wenn ich anrief.
An Tag drei nach dem Streit mit Lena kam Olli morgens um elf zur Wohnungstür herein, steckte den Kopf durch meine Zimmertür und sagte: „Hat geklappt.“
„Was?“ sagte ich.
„Das mit dem Job.“ Triumphierend grinste er mich an.
„Und?“ sagte ich, damit er mit den Details rausrückte.
„Statisterie in der Staatsoper. Mein Einstieg ins Musik-Business. Geht heute abend schon los.“ Er holte einen zerknitterten Zettel aus der rechten Gesäßtasche und entfaltete ihn umständlich: „,Der Freischütz‘ von Carl Maria von Weber. Und nächste Woche soll ich noch bei anderen Sachen mitmachen. Das gibt gut Geld.“ Olli grinste noch breiter. Er hielt eine CD hoch: „Best of Rigoletto“. „In der Wühlkiste geschossen. Ist echt Kult.“
„Hast du dir mal die Texte genauer angehört?“ fragte ich schüchtern.
„Nee, wieso? Ist doch alles italienisch.“ Olli verschwand aus meiner Tür. Sekunden später dröhnte ein Tenor aus seinen altersschwachen Boxen: „La donna e mobile.“ Der Gesang mischte sich mit Ollis Pfeifen.
Am Nachmittag sagte Olli: „Komm doch mit. Du mußt doch schon offene Wunden vom Rumliegen haben.“
„Ich war noch nie in der Oper“, sagte ich abfällig.
„Na eben. Dann wird’s Zeit. Und wer weiß, vielleicht wird das noch ein bedeutender Tag“, sagte Olli.
„Warum?“ maulte ich.
„Ich könnte entdeckt werden.“
„Als was?“ fragte ich, aber Olli antwortete nicht.
Es war sehr gut, daß ich mir ein Opernglas geliehen hatte, denn die billigen Plätze waren so hoch unter der Decke, daß man bequem mit einem Fallschirm hätte ins Parkett springen können. Der Vorhang ging auf: eine Waldschenke. Anscheinend war gerade Schützenfest. Einige Männer schossen auf einen Holzadler, andere veranstalteten Volkstänze. Andere tranken. Ich hielt nach Olli Ausschau. Ich entdeckte ihn in der letzten Reihe in einem großen Pulk von Bauern, die sich über den glücklosen Jäger Max lustig machten, der sonst immer traf, aber anscheinend gerade eine Pechsträhne hatte. Olli trug ein schlechtsitzendes Wams und einen falschen Schnurrbart. Er sah nicht glücklich aus.
Eine halbe Stunde und drei Arien später fühlte sich mein Hintern tatsächlich so an, als ob die Haut jeden Moment durchscheuern würde. Ich rutschte bereits unruhig hin und her, als Agathe, die Heldin der Oper, im zweiten Akt ein trauriges Lied sang und sich Sorgen um ihren Verlobten Max machte, der verdammt spät nach Hause kam. Na ja, dachte ich, in der Oper lassen sie sich alles gefallen von den Kerlen, aber im wahren Leben verschwinden sie einfach. Und dann fiel mir auf, daß man schon nach drei Tagen nicht mehr weiß, wie die Frau, die man liebt, sich anfühlt.
Im dritten Akt war das entscheidende Schießen angesetzt, bei dem Max unbedingt treffen mußte, sonst konnte er Agathe nicht heiraten. Was Max jedoch nicht wußte, war, daß der Teufel die Kugel lenkte, mit der er schießen wollte. Doch bevor es soweit war, kam Ollis großer Auftritt. Er verstärkte am hinteren Ende der Bühne den Jägerchor, trug Lederhose, Lodenweste, Hut mit Gamsbart und sogar eine altertümliche Flinte. Das Opernglas konnte mich täuschen, aber seine Miene sah grimmig aus. Derweil schälten sich einige von den Jägern aus der Masse, um ein Loblied auf die Jägerei anzustimmen: „Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen?/Wem sprudelt der Becher des Lebens so reich?/Beim Klange der Hörner im Grünen zu liegen/Den Hirsch zu verfolgen durch Dickicht und Teich.“
Als die Jäger den Refrain anstimmten, hob Olli plötzlich seinen Vorderlader und schoß in die Luft. Das war anscheinend nicht an dieser Stelle vorgesehen, denn der Jägerchor erstarb, während das Orchester tapfer weiter blechblies. Olli schoß erneut in die Luft. Das Orchester krächzte noch einmal. Dann war Stille. Olli ging ruhig nach vorne an den Bühnenrand, legte ganz langsam sein Kostüm ab. Darunter kam ein T-Shirt zum Vorschein, auf dem in schwarzen Lettern stand: www.olli-braucht-geld.de.
Olli hob eine Faust und brüllte: „Surf Nazis must die.“ Dann ging er von der Bühne. Ich klatschte laut und rief: „Bravo, Olli! Da capo!“, weil ich mal gehört hatte, daß man das in der Oper sagt. Aber ich war der einzige.
Danach ging ich zu Lenas Wohnung. Sie war nicht da. Als ich meine Haustür aufschloß, saß sie auf der Treppe. Sie nahm mich in den Arm und sagte: „Ich wußte auf einmal nicht mehr, warum wir uns gestritten haben.“ Wir legten uns sofort wieder ins Bett. Olli kam erst viel später nach Hause und drehte den Hiphop ziemlich laut.

Hartmut Pospiech
Autor und Literaturaktivist im Writers’ Room Hamburg, Moderator des monatlichen Poetry Slams Hamburg ist Slamburg, Veranstalter der Lesereihe Slam Dunking. Freier Drehbuchlektor und Skriptberater für TV-Movies und Sitcoms. Schreibt derzeit an seinem ersten Roman „Das Jahr, in dem mir alles gelang“.


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