Markus Wiese
Der Fichtenwald im Herbst
An sich sollte das hier eine Geschichte über
15 irre Klempnerlehrlinge werden, die ihren Meister
jagen. Ist dann aber doch nichts geworden. Statt
dessen wurde es eine Geschichte über zwei junge
Menschen, einen Volkshochschulkurs, jede Menge Geld,
einen Motorroller, ein Verbrechen und die Liebe.
Aber irgendwie stimmt das auch nicht. Es ist ja
auch gar nicht einfach, eine Geschichte zu schreiben.
Meist kommt irgendwas dazwischen, ein Telefonanruf
zum Beispiel, oder ein guter Film. In meinem Fall
war es Zahnseide.
Ich hatte schon einige Stunden an meinem Schreibtisch
verbracht, um etwas zu Papier zu bringen. Normalerweise
passiert bei diesen Sitzungen irgend etwas, und
wenn es auch nur kleine Strichmännchen-Comics
werden. Diesmal geschah nichts: Das einzige, das
mir anzeigte, daß sich etwas veränderte,
war der Zustand meines Bleistiftes. Durch ein ständiges
Kauen an seinem Ende begann sich in meinem Mund
ein unangenehmer Brei aus Holzfasern, Graphitrückständen
und Lackresten zu bilden. Zunächst glaubte
ich, dieses Gemisch mittels meiner Zunge aus den
Zahnzwischenräumen entfernen zu können.
Das war ein Trugschluß.
Glücklicherweise erinnerte ich mich an ein
Stück Zahnseide im Schreibtisch. Beim Öffnen
der Schublade stieß ich auf eine Reihe von
Dingen, deren Existenz ich längst verdrängt
hatte. Zum Beispiel eine mit Tesafilm verklebte
Zigarettenschachtel, die das Kondom meiner ersten
Liebesnacht enthält.
Oder eine filigran gearbeitete Silberdose, in der
ich das Auge eines Verkehrsopfers aufbewahre.
Auch der mumifizierte Körper einer Maus liegt
darin, ihr Schädel lächelt mich an.
Na ja, halt die Sachen, die man so im Laufe seines
Lebens ansammelt, darunter auch die Zahnseide.
Ich griff nach ihr. Dabei fiel mein Blick auf einen
dieser Ein Mann sitzt in der Kneipe und fragt
die Bedienung: Hast du mal nen Zettel und
nen Stift?-Zettel. Natürlich hatte
sie einen. Ich besah mir diesen Zettel, und flüchtige
Gedanken begannen mit kräftigen Spatenstichen
in tiefsitzenden Erinnerungen zu graben. Es erinnerte
mich an die Situation, die ich mit Jasmin in den
kalifornischen Bergen erlebt hatte. Damals waren
wir mit einem alten Ford unterwegs, und auf dem
Weg nach Tijuana blieb die Karre einfach stehn.
Irgendwie paßte das, schon in Pasadena lagen
wir uns mächtig in den Haaren. Sie meinte,
ich liebe sie nicht richtig, und ich meinte, schon
möglich. Auf jeden Fall sprachen wir seitdem
wenig miteinander. Als der Wagen da stand und sein
Kühlwasser verdampfte, erschien plötzlich
ein uralter Mexikaner, der ein in einer Metallschlinge
gefangenes Kaninchen mit sich rumtrug.
Bei jedem Schritt des Mexikaners schlackerte der
Kopf des Kaninchens unkontrolliert herum. Währenddessen
fing es an zu regnen, einen dieser warmen, kalifornischen
Sommerregen, und das erinnerte mich an Silvester
in Frankreich. Auch dort regnete es, aber es regnet
ja immer in Frankreich. Meine Scheibenwischer waren
auch nicht mehr so toll, und das kann ein Grund
dafür sein, warum ich das Mädchen nicht
rechtzeitig sah. Daß es ein Mädchen war,
erkannte ich allerdings erst
später, zunächst hörte ich etwas
ziemlich Dumpfes, dann flog
etwas wie eine betrunkene Fledermaus vor meinen
Scheinwerfern, und dann hielt ich an. Wenn sie wenigstens
häßlich gewesen wäre, aber so
Scheiß Jahresanfang. Sie war vielleicht siebzehn,
und ihre toten Augen sahen mich vorwurfsvoll an.
Aus ihrem Hinterkopf sickerte Blut. Die ganze Sache
wurde noch grotesker durch das bunte Harlekinkostüm,
das sie trug, so eins mit Troddeln und kleinen Schellen.
Die Dinger klingelten leicht, als ich das Mädchen
auf den Beifahrersitz setzte und ihm den Sicherheitsgurt
umlegte. O. K., dafür wars eigentlich
zu spät, aber ich wollte ja auch nicht, daß
sie mir beim Fahren ins Lenkrad rutscht. Ich fuhr
los, ohne zu wissen, was als nächstes passieren
sollte, und der wirklich unangenehme Geruch von
Blut machte sich im Wagen breit. Die Geschichte
erinnerte mich an einen Aal, den ich mal in einem
Fleet an der Nordsee gefangen hatte, aber das lenkt
auch von dem Zettel in meinem Schreibtisch ab.
Ich zog ihn hervor und hielt ihn dicht vor meine
Augen. Das einzige, was darauf stand, war eine Telefonnummer.
Der Fall schien interessant zu werden. Beherzt öffnete
ich eine weitere Schreibtischschublade und holte
aus ihr ein Glas, eine Reihe von Eiswürfeln
und eine große Flasche Jägermeister hervor.
Im Laufe der Jahre hatte ich festgestellt, daß
komplizierte Fälle und Jägermeister genau
das gleiche sind. Man muß beide mit dem gleichen
Respekt behandeln, denn ebenso, wie ein Fall aus
vielen verschlungenen Informationen und irreführenden
Indizien besteht, können einen die seltsam
gemischten Kräuter des Jägermeisters mächtig
aufs Glatteis führen.
Nachdem ich das Glas geleert hatte, beschäftigte
ich mich mit den Beweisstücken. Was hatte ich
bisher? Einen Zettel aus irgendeiner Kneipe. Eine
Nummer, die mir nichts sagte. Eine Handschrift,
die mir unbekannt war.
Immerhin, ein Anfang. Entschlossen wählte ich
die Ziffernfolge. Eine verschlafene Stimme meldete
sich und hauchte ein Hallo, hier ist Angelina, wer
ist denn da? in den Hörer.
Angelina! Mit ihr hatte ich nicht gerechnet. Wie
lange war das schon her? Sie hatte mir vor langer
Zeit das Herz gebrochen, aber es dient mir immer
noch. Sollte ich jetzt, nach so langer Zeit, das
Wagnis auf mich nehmen, sie wieder in meine Gedanken
zu lassen? Das erinnerte mich an die Geschichte
mit Agnes. Ich war damals dabei, als sie von einem
betrunkenen Rollerfahrer auf dem Weg zur Volkshochschule
umgefahren wurde. Im Krankenhaus verliebte Agnes
sich in einen Pfleger, und ich war plötzlich
Luft für sie. Das war für mich nicht so
schön.
Mit diesem Gedanken drückte ich den Hörer
langsam wieder auf die Gabel und zerriß den
Zettel mit der Nummer in kleine Fetzen. Das war
das letzte Mal, daß ich etwas von Angelina
gehört habe.
Markus Wiese
Markus Wiese, geb. 28.6.71 in Hamburg. Vorschule
1976 1977, Grundschule 1977 1980,
Gymnasium 1980 1990. Konfession: katholisch.
Lehre zum Dachdecker, letzter Ausbildungsstand:
Dachdeckermeister und Fachleiter. Ansonsten: Fast-Food-
und Formel-1-Anhänger, Mitglied im Schützenverein,
Gralsritter. Schreibende Tätigkeiten: mehrfacher
Teilnehmer an Preisausschreiben (keine Gewinne)
und erfolgreicher Teilnehmer diverser Poetry-Slams. |