Dierk Hagedorn
Mein Koffer ist meine Heimat
Ich habe gestern nacht das erste Mal wieder von
meinem Vater geträumt. Ich glaube, das ist
ein gutes Zeichen. Ich muß ihn sehr bald finden,
denn ich habe kaum noch Ritter übrig.
Mein Vater ist im Jahr meines zehnten Geburtstags
nach Chicago gegangen und seitdem nicht wiedergekommen.
Anfangs hatte er noch Karten geschrieben, aber wir
wußten nie, wo er wohnt. Dann, Jahre später,
habe ich meine Ritter in meinen Koffer gepackt und
mich auf die Suche gemacht.
Ich erinnere mich an das letzte gemeinsame Weihnachtsfest.
Es war das schönste Weihnachten, das ich je
hatte. Mein größter Wunsch war mir in
Erfüllung gegangen; ich bekam die Ritterburg
aus Plastik, die ich mir schon so lange gewünscht
hatte. Außerdem bekam ich meine ersten zwei
Plastikritter. Den Berittenen mit der Lanze und
dem wehenden Banner nannte ich Johann, den Fußsoldaten
Knecht.
Als am Heiligen Abend das Geschenkpapier um den
Baum verteilt lag, setzte sich mein Vater unter
die Wohnzimmertischlampe und baute mir meine Burg
zusammen. Sie war hervorragend ausgestattet. Sie
hatte einen Wehrgang über dem Tor, und das
Tor hatte eine richtige Zugbrücke. Es gab einen
hohen Bergfried mit einer Fahne darauf und ein tiefes
Verlies. Ich hätte sie am liebsten mit ins
Bett genommen. Das ging aber nicht, deswegen nahm
ich wenigstens Johann und Knecht mit.
Künftig gab ich fast mein gesamtes Taschengeld
für Ritter aus, denn wozu ist eine stolze Ritterburg
gut, wenn es keine Ritter gibt, die sie bewohnen
und belagern. Nach kurzer Zeit hatte ich schon über
hundert Ritter, weil mein Vater jedesmal, wenn er
von einer Reise zurückkam, ein paar mitbrachte.
Außerdem kriegte ich die gebrauchten Ritter
meiner Cousins, die sich mittlerweile für Autos
und Mädchen interessierten.
Zum Geburtstag bekam ich ein dickes Buch mit Rittersagen.
Ich mochte besonders Ritter Gawain von König
Artus Tafelrunde, weil er die größten
Heldentaten vollbrachte und auf den Bildern die
schönste Rüstung anhatte. Abends lasen
mir meine Eltern immer wieder die Abenteuer von
Artus Rittern vor. Johann hieß fortan
König Artus und Knecht Knecht. Auch alle anderen
Helden wohnten in meiner Ritterburg. Die Burg hieß
jetzt Camelot. Sir Gawain war mein schönster
Ritter zu Pferde, man konnte ihm verschiedene Waffen
in die Hand stecken, und sein Visier ging auf und
zu.
Des König Artus Feinde aber waren solche
Ritter, die aus verschiedenen auseinandernehmbaren
Segmenten bestanden, aus Unterteil, Oberkörper
und Helm. Diese Ritter wurden immer wieder grausam
zerstückelt.
Wenn mein Vater jetzt auf Reisen ging, nahm er Abschied
von mir und von Camelot und seinen Rittern, und
er versprach, bald zurückzukehren, um von seinen
Abenteuern zu erzählen. Wenn er unterwegs einige
Raubritter überwältigt haben sollte, wollte
er sie mir als Gefangene überlassen. Er nahm
seinen Aktenkoffer und verabschiedete sich; und
sollte ich unterdessen in Schwierigkeiten geraten,
sollte ich einen der getreuen Ritter der Tafelrunde
aussenden, damit mein Vater mir zur Rettung eilen
könne.
Einmal verreiste mein Vater weiter weg als sonst,
er reiste nach Chicago. Er mußte ein paar
Monate dortbleiben, aber er kam niemals zurück.
Ich wußte nicht, ob mein Vater noch in Chicago
war. Die letzte Karte war vor ungefähr drei
Jahren angekommen. Ich beschloß ihn zu suchen
und packte meinen Koffer. Ich tat alle 443 Plastikritter
hinein und flog nach Chicago.
Ich mußte meine Suche systematisch beginnen.
Ich wollte in der Innenstadt anfangen und an zentralen
Orten meine Ritter plazieren und achtgeben, was
passierte. Ich konnte zwar kein richtiges Stadtzentrum
finden, aber ich begann dennoch, meine Ritter ausschwärmen
zu lassen, und zwar in der State Street. Hier waren
so viele Menschen, ich stellte mir vor, daß
jeder Einwohner Chicagos hier binnen kurzem einmal
vorbeikommen müßte. Ich stellte einen
Ritter vor ein großes Kaufhaus, einen vor
einen Buchladen, einen vor eine Bank. Zehn Ritter
setzte ich in der State Street aus, fünf auf
jeder Seite, auf eine Strecke verteilt, die von
der Hochbahn umfahren wird.
In regelmäßigen Abständen ging ich
die Straße ab und kontrollierte, ob mein Vater
einen meiner Ritter gefunden hatte. Einige Ritter
waren bald verschwunden, aber von meinem Vater gab
es keine Spur. Ich ersetzte die fehlenden durch
neue und fuhr fort bis in den späten Abend,
bis die Straße sich leerte.
Es verging eine Woche, ohne daß ich einen
Erfolg errungen hätte. Ich dehnte meine Suche
auf die umgrenzenden Straßen aus. Ich stellte
auch probeweise zwei Ritter in den Grant Park. Meine
Runden wurden immer ausgedehnter, meine Ritter weniger,
und mein Vater blieb verschwunden. Dann kam ich
auf den Gedanken, die Ritter in Augenhöhe anzubringen.
Ich besorgte mir mehrere Rollen Duck Tape und befestigte
meine Ritter an Fassaden und an Ampeln und Lichtmasten.
Ich bin viel unterwegs. Wenn ich ausruhen muß,
setze ich mich in eine Bar oder in ein Café
und sehe nach draußen. Es ist Sommer und sehr
heiß. In den Bars ist es dunkel und kalt.
Die Menschen draußen haben wenig an. Meine
Ritter tragen alle ihre Rüstung.
Ich habe meinen Koffer stets bei mir. Ich stelle
ihn neben mich, trinke Kaffee oder Bier, öffne
ihn und hole ein paar Ritter heraus, die ich betrachte.
Anfangs hatte ich eine bedeutungslose Vorhut in
die State Street geschickt, einige Landsknechte
vor dem John Hancock Center und der Dearborn Station
Wache halten lassen; ich hatte vor den Haltestellen
des Loop Ritter unbedeutender Reiche auf Abenteuer
ausgesandt. Sehr viele sind nicht zurückgekehrt.
Dann begann ich irgendwann, die großen Helden,
die Ritter der Tafelrunde, ihr Werk tun zu lassen.
Doch auch die Besten versagten und kamen nicht wieder.
Viele Helden, die ich auf die Suche geschickt habe,
sind nun ebenso verschollen wie mein Vater. Sir
Tristan blieb auf der Wabash Street, Sir Ector konnte
in der Belmont Avenue keine Taten vollbringen. Die
Sheffield Street war mächtiger als Sir Dinadan
und Sir Agravaine. Sir Gareth und Sir Gaheris sind
vor der großen Bibliothek verlorengegangen,
und Sir Erec vor dem Sears Tower.
Es ist sechs Uhr früh. Gerade habe ich gefrühstückt
und dabei die Reste meiner Armee vor mir aufgebaut.
Nur die Allerbesten sind noch bei mir. Sir Lancelot
und Sir Galahad, Sir Percival und Sir Gawain sind
noch da. Knecht natürlich und mein König.
Gestern habe ich das erste Mal seit langer Zeit
wieder von meinem Vater geträumt. Heute schicke
ich die Besten und die Tapfersten aller Helden hinaus
in die Stadt, und heute werden sie meinen Vater
finden.
Dierk Hagedorn
Geboren 1966 in Hamburg; Mitbegründer a) der
Edition 406, b) der Künstlergruppe Absÿnnd
(www.absynnd.de)
& c) des Literaturclubs Macht (www.macht-ev.de).
Autor, Verleger, Illustrator, Maler, Grafiker etc.;
ungezählte Veröffentlichungen hier &
da, zuletzt Der P-Pinguin, Fotoroman, Eichborn,
2001. |